Verarmtes Menschenbild - Lindas Zimmerdschungel

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Verarmtes Menschenbild
Wer vom süßen Leben in der sozialen Hängematte redet, weiß nichts über Armut - von Lisa Nimmervoll

Faulbett. Sozialtourismus. Soziale Hängematte. Schmarotzer auf Staatskosten. Wenn diese Schlagwörter in der politischen Diskussion auftauchen, befindet man sich mit Sicherheit mitten in einer Debatte um Armutsbekämpfung.

Armut regt auf. Offenbar am meisten die, die selbst nicht betroffen sind. Vielleicht, weil sie sich der Obszönität von Armut in einem der reichsten Länder der Welt im Grunde bewusst sind. Armut regt vor allem dann auf, wenn sie aus den Betreuungszimmern der Sozialvereine und Wohnungen der Armen und Armutsgefährdeten ans Licht der Öffentlichkeit tritt und das Versteckspiel durchbrochen wird - das ist unzweifelhaft ein Verdienst der SPÖ, die die Grundsicherung zu einem Koalitionsthema gemacht hat.

Prompt tauchten die üblichen Phrasenmuster auf, die vor massenhaft in Arbeitslosigkeit flüchtenden 800-Euro-Empfängern warnen und insinuieren, diese Staats-Günstlinge in spe hätten nichts Besseres zu tun, als in ein Leben in glücklichem Nichtstun und süßer Untätigkeit zu rennen.

Welches verächtliche Menschenbild steckt hinter solchen Bildern? Woher rührt die Annahme, 800 Euro könnten der Preis für den Genuss freiwilliger Arbeitslosigkeit sein? Warum wird so getan, als wäre Arbeit das, was Arme am meisten fürchten? Wo sind denn all die fröhlichen Arbeitslosen?

Es gibt sie schlicht nicht. Das Problem ist nicht, dass die Leute nicht arbeiten wollen. Das Problem ist, dass viele den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht oder nicht voll genügen können - und rauskippen aus dem System. Darum fordert die Armutskonferenz die staatlich organisierte Schaffung eines "zweiten" und "dritten" Arbeitsmarkts, wo teilbeschäftigungsfähige Menschen Arbeit finden. In geschütztem Umfeld. Sozial abgesichert. Das meint Grundsicherung: Die Abdeckung existenzieller Bedürfnisse. Arbeit ist eines davon.
Wo "der Markt" versagt, und das tut er in der in der Arbeitsmarktfrage massiv, wenn Armut nicht mehr "nur" Arbeitslose, sondern auch Arbeitnehmer mit prekären Job-Anhäufungen betrifft, muss ein moderner, aktivierender, armutsbekämpfender Sozialstaat eingreifen. Er muss aber auch problematische Grauzonen (Schwarzarbeit) scharf kontrollieren und Schlupflöcher (notorische "Steuervermeider", Sozialversicherungsabgaben-Hinterziehung durch Firmen) radikal schließen.

Arbeitslosigkeit ist die zentrale Falltür in die Armut. Aber Arbeitslosigkeit ist mehr als ökonomische Not. Der Verlust der Arbeit ist mit Verlusten verbunden, die Menschen in ihrem Dasein und in ihrer Menschenwürde angreifen.

Der Faulbett-Fraktion sei ein soziologischer Klassiker empfohlen. "Die Arbeitslosen von Marienthal", von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus dem Jahr 1933. Diese Studie befasste sich mit den lebenszerrüttenden und familienzersetzenden Folgen langer Arbeitslosigkeit. Von den Freuden des Faulbetts wussten sie ebenso wenig zu berichten wie die jüngere Armutsforschung. In Marienthal herrschten Resignation, Verzweiflung, Apathie. "Ungebrochen" waren die, die auf "soziales", persönliches Kapital zurückgreifen konnten.

Wer dieses Kapital nicht per Geburt erbt, muss in einer solidarischen Gesellschaft damit nachträglich ausgestattet werden. Denn Armut ist das schwerste und anhänglichste Erbe, wenn nicht von außen interveniert wird - in erster Linie durch Bildung. Bildung ist die beste armutsbekämpfende Prophylaxe. Keine politische Maßnahme wird einen höheren Mehrwert abwerfen. Kindergarten und Schule können und müssen korrigieren. Derzeit leistet die Schule das nicht. Sie passt die Kinder bloß in sozial hoch determinierte Stränge des Systems ein. Die Folgen schlagen direkt durch auf den Arbeitsmarkt.

Geld allein reicht nicht für ein reiches Leben. Aber es ist ein Anfang. Und was, wenn Einzelne wirklich die Grundsicherung "ausnützen"? Diese Gesellschaft hält die begüterten Ausnützer, die das System auf ihre Art, etwa steuerschonend, verwerten, schon jetzt aus. Warum sollten da ein paar faule Arme unaushaltbar sein?


(DER STANDARD, 18.10.2006)


 
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